Es ist Freitag, der 10.02.2023, Mittagszeit. Ich sitze in einem Zug zwischen Dänemark und Schweden und überquere den Öresund auf der berühmten gleichnamigen Brücke. Erinnerungen kommen hoch. Ich war schon mal hier, vor fast 18 Jahren auf meiner ersten Geschäftsreise überhaupt. Sie führte mich nach Lund zu Sony-Ericsson, dem damaligen „Weltmarktführer“ unter den Handyherstellern. Dieses Mal bin ich privat unterwegs und werde u.a. auf „Weltmeister“ treffen. Mein Ziel sind die Malmö Open, einer der größten Sportveranstaltungen für Menschen mit Behinderung. Para-Sportler/innen aus über 20 Ländern kommen dort zusammen, um sich in 12 Sportarten zu messen. Auch 25 Mitglieder des englischen Brighton Table Tennis Club (BTTC) sind angereist. Sie sind der Grund, warum ich hier bin. Seit fast drei Jahren verbindet mich eine enge Freundschaft mit dem Verein, den ich bereits Ende 2022 für einige Tage besucht hatte. Die Magie dieses Vereins fasziniert und inspiriert mich.
Ich mache mich nach meiner Ankunft auf direktem Weg in die Hästhagens Sporthall. Nachdem ich angekommen bin, treffen nach und nach auch die ersten BTTC-Mitglieder ein. Unter anderem sind die Protagonisten aus der BTTC-Dokumentation „Believe That“ Andrew, Chris und Harry, der amtierende Weltmeister und Paralympicssieger von Rio, Will Bayley, oder das Nachwuchstalent Bly Twomey mit dabei. Insgesamt tritt der BTTC mit neun Spieler/innen in unterschiedlichen Klassen an. Die restlichen Personen setzen sich aus Betreuer/innen, Trainerstab und Familie zusammen. Die Vorfreude aller Beteiligten war bereits Tage zuvor in der eigens eingerichteten WhatsApp Gruppe riesig. Jetzt wird es ernst, das Turnier beginnt.
Am Freitag steht die klassenübergreifende Ausspielung der Doppeltitel an. Spieler/innen unterschiedlicher Klassen treten dabei mit- bzw. gegeneinander an. Es wird lediglich in „stehende“ und „sitzende“ Klasse unterschieden. Im Para-Tischtennis werden die Titel normalerweise innerhalb einer Klasse ausgespielt. Ich werde gefragt, ob ich nach Matthew und Chris schauen und sie coachen kann. Das mache ich natürlich gerne und freue mich über das mir entgegengebrachte Vertrauen. Sportlich läuft es für die beiden aber nicht rund. Matthew spielt zwar konstant, aber Chris steht in den ersten drei Spielen irgendwie neben sich. Er hadert mit dem blauen BTTC Shirt und würde viel lieber das rote England-Shirt tragen. Es beschäftigt ihn sehr. Doch in der Trostrunde ist Chris plötzlich hellwach. Auch Matthew steigert sich nochmal sichtlich. Es reicht zwar wieder nicht zu einem Sieg, aber zu vielen sehenswerten Ballwechseln.
So werde ich auch Zeuge des legendären „WOOOOOF“ von Chris O’Flinn. Begleitend zu diesem Ausruf schwingt er seine Hüfte schnell nach vorne. Es handelt sich um ein Zeichen der Freude über gelungene Punktgewinne und ist keinesfalls despektierlich gemeint. Der Ausdruck wird für uns zu einer Art Motto des Turniers.
Apropos Chris. Es wird kaum ein Abend ohne eine seiner berühmten Ansprachen vergehen, in der er dem ganzen Team dankt, Erfolge nochmals würdigt sowie auf die einzuhaltenden Zeiten in Bezug auf das Frühstück oder den Turnierbeginn am nächsten Tag hinweist. Er hält sogar eine Rede über das Bordtelefon des Flugzeugs auf dem Rückflug nach England. Das Video ist auf dem Instagramkanal des BTTC zu sehen und wird definitiv als Highlight in die Annalen des Clubs eingehen. Nicht zu vergessen sind seine warmen und herzlichen Worte, die er in einem anderen Video an Ciccio richtet. Ciccio musste den Trip nach Malmö kurzfristig absagen und stattdessen in seine italienische Heimat reisen, da sein Vater verstorben ist.
Am Endes des ersten Wettkampftages bleibt der BTTC im Doppel medaillenlos. Aber es bleiben noch zwei Tage und somit viele Möglichkeiten. Beim Abendessen lassen wir den Tag gemeinsam ausklingen. Das griechische Restaurant ist nur wenige hundert Meter von unserem Hotel entfernt. Die bis dato einzigen vier Gäste verlassen kurz nach unserer Ankunft das Restaurant. Wenig später gesellt sich noch eine kleine Gruppe von „Floorball“-Spieler/innen dazu, die ebenfalls aus England kommt und an den Malmö Open teilnimmt. Der Chef des Restaurants ist zwar ebenso wenig wie sein Küchenpersonal griechischer Abstammung und sie kommen bei der Gruppengröße auch mächtig ins Schwitzen. Aber dennoch müssen wir nicht lange warten. Das Essen schmeckt wirklich gut und wir sind alle satt und zufrieden. Der Restaurantchef wird es ebenso sein, denn ohne uns hätte er wohl ein leeres Restaurant an diesem Abend vorgefunden. Nach einem Absacker an der Hotelbar geht es auch für mich ins Bett. Chris hatte es in seiner Rede im Restaurant bereits angedeutet: Frühstück um 7:15 Uhr.
Am Samstag geht es analog Freitag in einem gemischten Modus weiter. Auch die Einzel werden klassenübergreifend gespielt, wobei die Einteilung dieses Mal nach „Leistungsgrad“ erfolgt. So ergibt sich die seltene Konstellation, dass Will Bayley in einem Wettkampf gegen einen Gegner antritt, der im Rollstuhl sitzt. Wer allerdings meint, dass Will ihn deshalb dominiert, liegt falsch. Es ist ein enges und spannendes 5-Satz-Spiel mit vielen hochklassigen Ballwechseln. Letzteres gilt auch für viele andere Spiele, was aber auch kein Wunder ist. Etliche ehemalige Teilnehmer/innen an Paralympischen Spielen und Weltmeisterschaften sind in Malmö am Start und zeigen beeindruckende Leistungen. Dies gilt aber ebenso für andere Spieler/innen, die nicht auf Weltklasseniveau unterwegs sind. Sie geben alles und haben trotz Wettkampfmodus vor allem eines: jede Menge Spaß am Tischtennis und am Austausch mit den Anderen.
Dieser Wettkampftag wird glanzvoll enden. Harry Fairchild sichert sich zunächst mit seinem unnachahmlichen, sicheren und offenen Spiel die Goldmedaille. Der junge Dan Thomson wird Zweiter und schnappt sich die Silbermedaille. Will Bayley legt nach und freut sich ebenfalls über die Bronzemedaille. Die Spannung und die Stimmung steigt als Bly Twomey in die Box steigt. Sie steht im Finale und spielt um Gold. Der Anhang aus Brighton versammelt sich an einer der Ecken der Box. Bly’s Punkte werden euphorisch beklatscht. Sie versteht es, sich selbst zu motivieren und zu „pushen“. Nach einem spannenden Spiel gewinnt Bly den Entscheidungssatz mit 11:8. Die Folge sind Emotionen pur. Die Freunde ist so groß, dass sogar Banden im Eifer des Gefechts versehentlich umgeworfen werden.
Am Abend geht es dieses Mal in ein italienisches Restaurant. Es seien Tische gebucht worden. Der Begriff Restaurant entpuppt sich allerdings als etwas übertrieben. Es handelt sich eher um eine kleine Pizzeria mit nur wenigen Sitzgelegenheiten. Wieder bringen wir das Personal ins Schwitzen. Es beginnt bereits mit der Hilfestellung bei der Bestellung. Bargeld in Form von Schwedischen Kronen haben die wenigsten dabei, eine direkte Kartenzahlung ist nicht möglich. Allerdings können wir über einen Link im Internet bestellen und dort mit Kreditkarte zahlen. Nach einer kurzen Einführung funktioniert es problemlos. Auch dieses Mal sind wir sehr zufrieden und vor allem eines: satt
Der dritte und letzte Wettkampftag startet mit dem Frühstück zur altbekannten Uhrzeit um 7:15 Uhr. Alle Spieler/innen freuen sich darauf, in ihren Wettkampfklassen antreten zu können. Will und Bly kämpfen in der Klasse 7. Wie in den anderen Klassen auch, teilt sich das Teilnehmerfeld nach der Gruppenphase in das A- und das B-Feld. Die Konkurrenz ist stark. Will bestätigt seine Favoritenrolle und holt einen Sieg nach dem anderen. Für Bly geht es nach der Gruppenphase im B-Feld weiter. Beide schaffen es in die Finalspiele. Diese finden parallel statt und Bly und Will bestreiten sie nahezu im Gleichschritt. Am Ende steht es zweimal 3:0. Zwei weitere Goldmedaillen gehen somit an den BTTC. Während für Will alles andere vermutlich eine Enttäuschung gewesen wäre, grenzt der Gewinn der zweiten Goldmedaille für Bly schon fast an ein kleines Wunder. Die gerade mal 12-jährige schlägt nämlich die Lokalmatadorin Smilla Sand, immerhin die Weltranglisten-Vierte in ihrer Klasse. In der Vorrunde hatte sie noch mit 1:3 das Nachsehen. Ihre Erfolge sind umso höher zu bewerten, wenn man bedenkt, dass Bly erst seit gut 1 1/2 Jahren Tischtennis spielt.
Es wäre an dieser Stelle aber ungerecht lediglich die Medaillengewinner/innen des BTTC namentlich zu aufzuführen. Auch Emma, Georgia, Andrew, Chris, Harry und Matthew kämpfen an diesem letzten Wettkampftag mit großer Leidenschaft und wachsen teilweise über sich hinaus. Sie können sehr stolz auf ihre Leistungen sein.
Der BTTC wäre nicht der BTTC, wenn neben den sportlichen nicht noch weitere Highlights gesetzt werden würden. Am dritten Abend findet dieses in Form einer Abendveranstaltung im benachbarten Kopenhagen statt. Mit dem Zug fahren wir alle gemeinsam von Malmö in die dänische Hauptstadt. Auf der Fahrt sinnieren BTTC Mitbegründer Tim Holtam und ich wie sich alles von unserem ersten Kontakt vor fast drei Jahren bis zu diesem Moment auf der Öresundbrücke genau zwischen Dänemark und Schweden entwickelt hat. Der Ort für das Gespräch könnte nicht passender sein, denn der BTTC ist ein „Brückenbauer“ zwischen vielen völlig unterschiedlichen Menschen. So auch in meinem Fall.
In Kopenhagen angekommen werde ich plötzlich zum „Reiseleiter“ ernannt. Die einen sagen, weil ich so vertrauenswürdig wirke, die anderen, weil ich noch Akkulaufzeit auf meinem Smartphone habe. Was auch immer der wahre Grund ist, wir machen uns auf den Weg. Trotz wiederholter energischer Proteste von Chris gegenüber meinen Google Maps Richtungsangaben, erreichen wir pünktlich und auf direktem Weg das „Absalon“. Die ehemalige Kirche wurde zu einem Gemeindetreffpunkt umfunktioniert. Hier wird täglich für bis zu 200 Personen zu einem fairen Preis frisch gekocht und es finden diverse Veranstaltungen statt. Ziel ist es, das Miteinander und die Kommunikation zu fördern. Das Essen wird pro Tisch von jeweils zwei Personen an der Ausgabe abgeholt und mit den Anderen am Tisch geteilt. Es wird auch eigenständig abgeräumt. Am Mikro steht dieses Mal übrigens Harry anstelle von Chris und informiert alle Anwesenden über Tischtennis. Im Anschluss an das Essen werden die Biertischgarnituren ab- und die Tischtennistische aufgebaut. Wie jeden Sonntag wird ein kleines Tischtennisturnier veranstaltet. Leider können wir nicht bis zum Ende mitspielen, aber auch dieses Turnier verbindet Menschen unterschiedlicher Herkünfte und zaubert ein Lächeln in alle Gesichter. Zurück im Hotel verabschieden wir uns mit vielen Umarmungen voneinander. Ich muss früh aufstehen, um meinen Abflug in Kopenhagen nicht zu verpassen.
Was bleibt, sind viele unvergessliche Erinnerungen und Impressionen, die überwiegend von Caleb Yule in Bildern eingefangen wurden. Der junge Filmemacher aus Brighton schafft es immer wieder aufs Neue die Emotionen in Bildern einzufangen und zu transportieren. Hervorheben möchte ich außerdem den extrem starken Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung innerhalb des BTTC. Kein anderer Club, keine andere Delegation hat es auch nur ansatzweise geschafft, seinen Spieler/innen derartig Flügel zu verleihen. Tief eingeprägt hat sich zudem ein langes Gespräch mit Cristian. Er war als „persönlicher Betreuer/Assistent“ von Chris auf dieser Reise dabei und erzählte mir von seiner Arbeit und den damit verbundenen Aufgaben und Herausforderungen. Es waren die vielen Details, die mir nicht bewusst waren, bzw. über die ich mir nie Gedanken gemacht habe. Ich habe allerhöchsten Respekt vor seiner Tätigkeit und kann nur den Hut ziehen.
Ich hoffe auch im kommenden Jahr wieder dabei sein zu können. Dann vielleicht sogar mit Spieler/innen vom TSG Steinheim. Darüber hinaus möchte ich weiterhin selber „Brücken bauen“ und Menschen mittels Tischtennis zusammenbringen. Ich wünsche mir, dass noch viel mehr Menschen mit Behinderung den Weg zum Sport und insbesondere zum Tischtennis finden.
In diesem Sinne: WOOOOOF!
Bilder: Caleb Yule